Kleine Träne

Ich schreite hinab in die Dunkelheit, wie oft bin ich hier gegangen, wie oft wieder umgekehrt? Ich weiß es nicht. Niemals habe ich es gewagt, einen Schritt weiter zu setzen, als das Licht reicht. Der sanfte Lichtkegel von öligem Schein der alten Laterne, deren Glas nur vom Schmutz zusammengehalten wird. Er reicht hier hinab, ein weites Stück und verläuft ich schließlich in der Nacht, die hier immer herrscht. Einmal habe ich dort gestanden, dort, wo der letzte kleine Strahl in die Dunkelheit gesaugt wird. Man erkennt nichts mehr danach.
Die staubige Strasse, das kleine Rinnsal, das am Bordstein entlangt seinen Weg in die schwarze Erde sucht, und der Bordstein selbst, nichts existiert jenseits dieses letzten Strahles noch. Nur kühle Dunkelheit und eine allwissende Stille. Wenn ich dorthinein gehe, denke ich manchmal, dann komme ich nie wieder. Es gibt Geschichten von Helden, die sich hineingewagt haben, um schöne Frauen aus den Klauen von Ungeheuern zu erretten. Man hat von ihnen nie wieder etwas gehört. Was auch daran liegen kann, dass es solche Helden nur in meiner Phantasie gibt.
Tatsächlich hat sich noch nie jemand dafür interessiert, was dort jenseits liegt, oder zumindest für eine lange Zeit niemand. Ausser mir. Und nun, nun bin ich wieder hier, wieder alleine, nichts könnte mich diesesmal zurückhalten, denn es gibts nichts mehr, was mich an dem interessiert, was zurückliegt. Ich werde mich nicht umdrehen, denn ich würde nur den Spott sehen, der mir nachläuft mit seiner Fratze, den Hochmut, wie er dort herumstolziert oder die Wut, die eigentlich nur großtut, um ihre Schwester, die Angst, hinter sich zu verbergen.
Aber all diese Gestalten will ich nicht wieder sehen. Und so stehe ich wieder hier, niemand wird mich aufhalten, ich atme ein letztes Mal den Dunst der Stadt ein, wer weiss, ob man atmen kann in der tiefen Nacht dort. Meine Hand gleitet voraus und durchschneidet die Dunkelheit, sie verschwindet in ihr und ich schliesse meine Augen und folge ihr nach. Ein Schritt, zwei Schritte, ich muss schon mittendrin sein.
Ich öffne meine Augen wieder und nichts ist anders. Man erkennt nicht, was um einen ist, man erkennt nicht einmal, dass man selbst ist, eine Hülle erstreckt sich rundherum. Eine erstaunlich warme Hülle, eine ruhige Hülle, ein Mantel aus schweigender Nacht. Behutsam setze ich weitere Schritte hinein, jedesmal taste ich mit meinem Fuss voraus, ob mich auch noch wieder ein Boden halten wird. Und es ist ein glatter und fester Boden, der sich dort erstreckt, scheinbar unendlich in alle Richtungen.
Ich fühle, dass er nicht nachgeben wird und immer sicherer und schneller folgt Schritt auf Schritt. Irgendwann sind die Augen egal, sie sind nicht mehr wichtig, auch die Ohren sind überflüssig. Mein ganzer Körper nimmt die Dunkelheit auf, sie ist wie ein Leitfaden, sie lässt mich nur in eine Richtung durch, ich kann ihr folgen, getrost folgen, nichts wird geschehen. Und ich fühle die Schritte, ich weiß, wo ich sie setzen muss, ohne mehr von dieser Welt zu kennen, als meine bloße Ahnung mit meiner Phantasie zusammen konstruiert. Am Anfang zähle ich die Schritte, ich rechne sie in Meter um und in Minuten, ich weiß, wieweit ich in welcher Zeit gekommen sein muss und ich spekuliere um ein Ende der Strecke. Aber irgendwann fallen mir die Zahlen aus dem Kopf, wie einem Staub aus der Hand fällt, die aus ihm ohne Wasser Erde kneten wollte. Und immer weiter gehe ich, ohne dass Zeit oder Strecke noch irgendeine Bedeutung hätte. Und auch meine Müdigkeit verfliegt.
Ausgetauscht sind alle meine Schmerzen, meine Unruhe und meine Erschöpfung, ausgetauscht gegen ein Gefühl der Wärme, der Sicherheit. Ein Gefühl, dass mir nicht das Geringsten passieren kann hier. Schliesslich geben auch meine Beine nach, ich scheine gar nicht mehr zu gehen, nein, ich schwebe über den Boden, nein, in Wirklichkeit schwebe ich nur, der Boden existiert genauso wenig noch. Und ich bin ruhig.
Plötzlich bewege ich mich nicht mehr. Ich weiß zwar kaum noch, was Bewegung überhaupt war, aber ich weiß, dass sie hier endet. Unwillkürlich schlage ich meine Augen auf und es ist nicht länger dunkel. Ein unbeschreibliches Licht erfüllt alles, es dringt durch mich und umhüllt mich, wie die Dunkelheit es vorher tat. Dieses Licht erfüllt mich mit einer tiefen Freude. Langsam zeichnen sich Konturen ab, ein Haus wird sichtbar, es ist ein kleines Häuschen, es duckt sich unter grosse Kastanienbäume, umgeben von wilden Rosen und kleinen blaubunten Blümchen, die ich noch nie gesehen habe.
Ich sehe die Tür steht ein wenig offen, es ist als wenn das Haus mich einlädt, als wenn es mich anlächelt und sagt: tritt ein, ich warte auf dich. Und ich weiß, dass ich zuhause bin. Ich drehe mich um und sehe einen weiten, hellen Buchenwald zur Linken liegen, Eichhörnchen spielen an den Stämmen. Hinter mir höre ich das Plätchern eines Baches, der ein Lied singt. Und zur rechten sitzt auf einem Hügel, vor einem anderen kleinen Häuschen ein alter Mann mit einer Pfeife. Er lächelt zu mir herüber und ich nicke ihm zu.
Dann gehe ich zum Haus hinüber und öffne die Tür. Ich drehe mich um und schaue noch einmal rundherum und ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Ich bin zuhause. Ich wende mich wieder zum Haus und ein Rütteln erschüttert es, ein Zittern erfasst auch mich und ein schriller Schrei durchdringt das Bild. Ich verzerre schmerzerfüllt mein Gesicht und kneife die Augen zu, während ich mir die Ohren zuhalte. Schliesslich lässt das Schreien nach. Ich öffne vorsichtig die Augen und sie müssen sich an die Dunkelheit gewöhnen.
Über mir steht ein Mann, der mich an den Schultern gepackt hält und schüttelt, daneben steht eine junge Frau, die die Hände vors Gesicht geschlagen hat. Der ölige Schein einer schmutzigen Laterne erfüllt gerade noch die Szene mit ein wenig schaurigem Licht. "Stehen sie auf, wir bringen sie nach Hause!" sagt der Mann. Ich nicke widerwillig und lasse mir aufhelfen. Eine kleine Träne versucht, sich aus meinem Auge einen Weg in die Welt zu bahnen.