Nebelbank

Nebel liegt über dem Land. Es ist ein sehr nebliger Herbst, aber heute ist es besonders viel Nebel, der sich schwer und langsam durch die Mulden und Furchen der Äcker und Weiden wälzt. Aber es ist auch ein besonders schöner Nebel. Majestätisch. Er umhüllt die Bäume, wie ein wallender Umhang einst einen mächtigen König umhüllt haben mag. Und wirklich scheint das matte Silbergrau seiner Falten ein wenig purpur und seine Säume schimmern golden.
Der Nebel an solch einem Oktobermorgen ist farbiger als der Wald mit seinem Herbstblätter- schmuck. Er ist weiß und hellblau, wenn er den Wolken konkurrierend in den Himmel hinauf strebt; ikarusgleich der Sonne entgegen, die er doch nie erreicht, weil sie ihn vorher zu unsichtbarem Wasserstaub zerfließen läßt.
Er ist blau und hellgrün, wenn er sich mit seinem Ursprung, dem Wasser des Flußes, auf dieselbe wunderbare Weise wiedervereint, auf die er von ihm zu seiner täglichen rastlosen Reise aufgebrochen ist.
Er ist grün und braun, wenn er, müde von zielloser Fahrt und zahllosen Wegen, den Tau bildet, der die morgendliche Welt mit einer Frische erfüllt, wie sie niemals jemand bemerkt, der nicht vor der Sonne aufsteht und einen Platz wie diesen hat.
Er ist gelb und rot, wenn er der Sonne zum Trotz ein Filter der Luft sein will, der vergeblich versucht, die Welt vor den Blicken zu schützen, die ein Gott mit dem von ihm geschaffenen Licht auf sein Werk richten will.
Und er ist schwarz, wenn er sich zwischen den Bäumen verliert, die ihn einsaugen und sich durch ihn ein Geheimnis geben, welches undurchdringlicher ist als Mauern aus Stein oder Beton es jemals sein können.
Dieser Nebel ist der Grund, weswegen ich sooft wie möglich hier draussen bin. Obwohl er in wenigen Stunden verschwuden sein wird, zieht er doch ruhig wie eh und je seine Bahnen über die Wiesen, über die Äcker, durch die Wälder und über den Fluss. Es ist, als wäre er sich einer Sinnlosigkeit der Eile bewusst, die dem Menschen völlig entgangen sein muss.

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Ich ziehe meine Jacke ganz zu, denn langsam wird es kalt. Ich friere sonst nicht, aber die Sonne geht noch nicht auf und ich sitze schon etwas länger hier, bevor ich mir was weghole... das hätte sie auch gesagt: Zieh die Jacke zu, bevor du dir was wegholst! Das wäre genau das gewesen, was sie mir jetzt gesagt hätte, obwohl es so viel zu sagen gegeben hätte, zieh die Jacke zu! hätte sie gesagt. Noch ein Grund, denke ich, weil sie immer an das praktische dachte. Ziehe ich meine Jacke zu, weil sie es gewolt hätte?

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Ein Sonnenstrahl blickt durch den Nebelfilter auf die Erde. Ein wunderschöner, goldener Sonnenstrahl, der erste heute morgen. Das Farbenspiel der Grashalme und Blumen, die er sanft berührt, ist einmalig. Alle Farben des Regenbogens spiegeln sich in jedem winzigen Tröpfchen, das an einem von ihnen seine belebende Kraft entfaltet. Und nun bekommt der eine Strahl Gesellschaft. Mehr und mehr von ihnen blicken durch die Nebeldecke und beginnen, die Welt mit ihrem zarten Schein sachte zu wecken. Es ist wie im Film, wenn der Schein Gottes auf den Auserwählten fällt, nur dass dieser Schein der ganzen Welt gilt und das Tag für Tag.
Ein erhabenes Gefühl durchflutet mich, wen ich diese Gedanken habe. Ein Gefühl, dass dieser Welt und jedem in ihr und auch mir selbst so viel mehr möglich ist als wir verwirklichen, als wir träumen zu verwirklichen.

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Ein Schauer läuft mir über den Rücken, ich ziehe die Jacke noch fester zu. Sie hat das alles nicht verstanden. Sie hat mich nie wirklich verstanden, nie verstehen wollen, wenn es um meine Gedanken oder Gefühle ging. Es war, als gäbe es in ihrer Welt keine weitreichenden Gedanken, keine Bedeutungen, die über ihren Freundeskreis hinaus bestand hatten, keine Gefühle, die nicht direkt mit einer körperlichen, materiellen Komponente verbunden gewesen wären. Und doch war es eine fazinierende Einfachheit, die mich zu ihr hinzog. Es schien, als sei in ihrem Leben alles einer Bewertung auf einer Skala unterworfen, welche von sehr gut bis verachtenswert reichte und bei der praktischer Nutzen im allgemeinen, ihr persönlicher Vorteil und ihr Vergnügen im speziellen, sowie die Übertragbarkeit auf bereits Erfasstes eine Rolle spielte.
Ich denke dieses letztere war der Grund dafür, dass ich in ihrem Leben eine zeitlang diese immense Bedeutung hatte.

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Ein erster gleissender Schein erklimmt die schwarzen Mauern aus Stämmen und Ästen, Zweigen und Nadeln, die neben mir wie zum Schutz des zarten Nebels aufgebaut scheint, und kündigt das baldige Erscheinen Helios' an. Scheu erhebt sich der mächtige Feuerball selbst über die Wand von Baum. Er wird dieses morgendliche Szenario mit Leben erfüllen, mit Leben, welches, wo es nicht versucht, sich selbst zu erhalten, nur der eigenen Eleganz, Schönheit oder Befriedigung hinterherjagt, unfähig, anderem mehr als gar keine Bedeutung beizumessen. Mit Leben, welches in der eigenen Begrenzung durch Geburt und Tod, durch Keimen und Faueln gefangen, keinen Sinn entwickelt für Dinge, die darüber stehen, Dinge, die weder das eigene Sein noch das der Welt von jetzt berühren, die von elementarer und umfassender Bedeutung sind.
Und wenn der Sonnenball dieses Leben weckt, lässt er zugleich das Gebilde des Nebels in sich zusammenfallen, ein Gebilde, das unabhängig von den Wäldern, die es durchfliesst, von den Blumen, die es benetzt, von den Feldern, die es bedeckt, unabhängig von allem Leben, von allem durch Leben geschaffenen, jeden Morgen wieder, nachdem es in der Nacht und en frühen Stunden seine Wege gegangen und seine Aufgabe erfüllt hat, der Wärme der Sone Platz macht. Doch auch ein Gebilde, das so von kaum einem Leben, adas der Wahrnehmung fähig ist, wahrgenommen wird. Und genau deswegen liebe ich es so, weil es unentdeckt ist, weil ich es genießen kann, ohne es teilen zu müssen.

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Aber ich hätte es geteilt, wenn sie es gewollt hätte, nur sie hatte kein Verständnis für diese Fazination. Ihr war kalt und sie konnte nicht in die Ferne sehen, weil ihr die Natur selbst mit dem Nebel im Weg war. Auch meine Versuche, ihr die Erhabenheit des Nebels klarzumachen, scheiterten an ihrem praktischen Denken. Wie vieles.

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Nun geht es wieder los. Oder vielmehr hört es wieder auf. Die Sonne steht so hoch, dass der Nebel beginnt, sich aufzulösen. Ich warte das nicht ab. Ich habe das einmal abgewartet, aber ohne Nebel verlor der Platz seinen grössten Reiz. Es ist ein Wald, einige Wiesen, ein Fluss, aber nichts aussergewöhnliches. Und ich möchte nicht, dass dieser Platz seinen Reiz verliert. Also stehe ich von der Bank auf, meiner Bank. Sie war ein einziges Mal hier, hat nur einmal auf dieser Bank gesessen, aber seitdem hat sie sie nur meine Nebelbank genannt. Langsam gehe ich nach Hause. Wir haben uns ein halbes Jahr nicht gesehen oder voneinander gehört. Ich weiss nicht, was aus ihr geworden ist oder wird. Ich weiss nicht einmal, was aus mir geworden ist oder wird.