Meine Höhle

Und nun schreite ich wieder abwärts. Hinein in die Dunkelheit. Ich kenne hier jeden Stein und jede Kante, es macht mir nichts mehr, dass ich nicht mehr sehe, als die sehr schmalen Lichtstreifen dort am anderen Ende der Höhle es zulassen. Es ist jedesmal ein seltsames Gefühl, jemanden an das Glück zu verlieren.
Wehmütig denke ich zurück, meine Gefühle zerreißen mich innerlich. Ich stehe nun wieder unten, unter dem wenigen Licht, das die Welt hier hinablässt. Und ich blicke hinauf und sehe schon die nächsten Menschen herunterfallen. Herunter in meine Höhle. Aber es wird noch einige Zeit dauern, bis sie hier sind. Ich gehe weiter, in die dunkleren Gänge und setze mich. Einer meiner Begleiter hier setzt sich zu mir. „Und," fragt er, „hat sie es geschafft?" „Ja." Mehr kann ich nicht antworten, mehr kann ich nie sagen. Er nickt verstehend und steht wieder auf. Dann legt er seine Hand auf meine Schulter und sieht mich an. Er braucht nichts zu sagen, ich weiss, was er meint. Ich nicke und er geht wieder in die Dunkelheit.

Es ist nie einfach. Man hat einen Menschen gewonnen, er hat einiges gelernt und dann geht er fort. Aber so ist das. Und anders wäre es auch schlimm. Alle die, die hier sind, die schon lange hier sind, sie erinnern sich nicht mehr an das Licht, an die Blumen und die Bäume, sie haben nur noch dunkle Schatten im Kopf und Felsen. Dafür, sage ich mir, dafür machst du das hier doch, damit sie gehen, damit sie weitermachen können. Und doch ist es schwer. Es gibt hier gewisse Dinge, die man nicht sagen muss. Jeder, der hier ist, weiss sie. Jeder hat sie gesehen, jeder kennt sie. Manche wollen sie nicht sehen, sie wollen sich nicht erinnern, sie bleiben für sich. Aber wenn sie zu lange so bleiben, dann ist es zu spät. Man kann hier nicht lange bleiben.

Ich trete wieder an den Spalt. Nun, die Menschen werden kommen, ich brauche keine Ungeduld zu zeigen, sie werden kommen. Ich überprüfe alles: sind die Fackeln bereit? Ja. Manche nehmen sie nicht. Und viele haben auch eigene mit. Aber man weiss ja nie. Ein kalter Hauch weht durch die Höhle. Ich kenne dieses Wehen. Ich schließe die Augen, ich weiss, was passiert: und husch ist es vorbei. Ein eiskalter Wind zieht noch einmal durch die Gänge und pfeift an den Ecken und Kanten der kalten, schwarzen Steintore. Es war eine verlorene Seele. Einer dieser armen Wichte, die hier schon so viel länger selbst als ich sind, die nie mehr einen Weg heraus finden. Sie sind hier gefangen, bis an das Ende ihrer Tage und darüber hinaus. Und wir wenigen, die noch nicht so sind, wir sehen diesem Schicksal entgegen.

Es dauert wohl doch noch länger, also gehe ich noch einmal rundherum durch einige der Gänge. Sie sind alle nachtschwarz, sobald man die große Höhle verlassen hat und durch die engeren Stollen geht, zu den dunklen Hallen oder den Schluchten mit den schmalen Brücken. Ich gehe zur großen Schlucht. Der handbreite Felsgrat, der hinüberführt, ist wie eine breite Allee unter meinen Füßen, ich bin ihn schon tausendmal gegangen. Jenseits treffe ich eine verlorene Seele wieder, die einen Moment in ihrer ewigen Jagd innehält und mit ihren leeren Augen, die ich nur ahnen kann, meinen festen Schritt mißtrauisch mustert. Ich halte ihr meine Hand hin, aber als sie die Wärme spürt, die sie transportiert, da zuckt sie zurück und beginnt mit einem leisen Fauchen wieder zu kreisen. Also lasse ich sie in Ruhe und gehe weiter.

Die Gänge, die nun vor mir liegen, hallen wieder von den Schreien der Gequälten. Sie sind die bedauernswertesten Kreaturen, die ich kenne. Andauernd sehen sie Bilder von Ausgängen, von befreienden Türen ins Licht und doch sind es nur Illusionen ihrer eigenen, bizarren Gedankenwelt. Und so sind sie dazu verdammt, immer wieder gegen die Wände der Höhlen zu rennen. Sie rennen sich die Köpfe ein und schreien vor Schmerz, wenn sie merken, dass es nur wieder ein Trugbild ihres Geistes war, der ihnen etwas vorgespiegelt hat. Und so geht es immer wieder, immer wieder. Sie lassen sich nicht helfen, sie wollen alleine dort hinaus, wo sie es für richtig halten und so müssen sie denn weiter rennen, und wir können nichts für sie tun.

Während die verlorenen Seelen noch ohne Gefühl herumirren und irgendwann zugrundegehen, stürzen sich die Gequälten immer wieder ins offene Messer, bis ihre Kraft verbraucht ist und sie hier verenden. Und so kommen viele, viele nie wieder hier heraus. Sie werden zu Stein, sie bilden die Wände dieser Welt hier unten, alles ist aus den für immer verlorenen Geistern von Menschen, die einmal glücklich waren, geschaffen hier. Und ich kenne jede Ecke davon.

Langsam gehe ich wieder zurück. Ich weiss nicht einmal, ob ich mich darüber freuen sollte, dass ich noch nicht meinen Verstand verloren habe hier unten. Man sieht die Menschen, wie sie hier herein fallen, immer wieder neue, immer mehr, immer öfter. Und einige schliesst man ins Herz, so, wie ich sie ins Herz geschlossen habe. Und dann schaffen sie es. Sie entkommen dem Labyrinth, sie finden ihren Weg und ihren Ausgang, sie kehren zurück: und ich weiss nicht, was ich tun soll: Soll ich mich für sie freuen? Sie haben ein besseres Leben erlangt. Viele sehe ich dort draußen, ich bin einer der wenigen, die hier auch herauszuschauen wissen. Die wenigen, kleinen Fenster sind sehr gut verborgen. Ich sehe dort draußen die Menschen und ich freue mich für sie.

Aber für uns, für mich, sind sie verloren. Sie werden mich nicht vergessen, sie werden an mich denken, aber sie werden mir nie wieder so nahe sein. Wenn man zusammen hier unten ist, dann verbindet einen viel mehr als man benennen kann. Man ist füreinander alles, was zählt. Und wenn man dann einen Weg hinaus gefunden hat, dann werden wieder andere Dinge wichtig. Und ich würde mir für niemanden wünschen, dass er hier wieder zu mir hereinfällt. Ich würde ihn wieder auffangen und erneut mit ihm gehen hier unten. Aber niemand hätte einen weiteren Besuch hier verdient.

Und ich weiss von Vielen, dass ich sie nie wieder sehen werde hier. Und das freut mich. Dennoch ist man manchmal sehr alleine. Aber ich weiss ja, dass mir niemand helfen kann, als ich selber. Wenn einmal die Zeit gekommen ist, dann werde ich mich von hier verabschieden, meine Begleiter hier werden mich verabschieden, ich werde wissen, dass ich sie nicht wieder sehen werde, und sie werden es auch wissen. Und dann werde ich gehen, einfach so. Ich werde hinaus gehen und meine Tür öffnen, ich werde wieder Sonne sehen und frische Luft atmen und ich werde dort oben liegen und glücklich sein. Aber der Tag ist noch nicht da.

Bis er gekommen ist, werde ich weiter hier unten herumstreichen, verlorenen Seelen ihre ewige Unrast ein wenig zu nehmen versuchen. Gequälte in den Arm nehmen und ihre Tränen trocknen. Und vor allem den Neuen einen Weg anbieten und eine Fackel. Ich weiss nicht, ob ich dort oben einen Sinn in meinem Leben hätte. Hier unten habe ich ihn. Wie sehr würde ich mir auch wünschen, dass ich einmal einen Nachfolger finde. Denn wenn ich die Höhlen verlasse, dann werde ich den Menschen nur noch helfen können, in der Welt dort oben wieder Fuß zu fassen, wieder Freude zu leben. Aber dazu müssen sie von selber hier herauskommen. Und ich kann sie warnen, aber dort oben verklingen Worte noch viel schneller als hier unten.

Aber ein Nachfolger müsste mehr zu tun bereit sein, als ich von irgendwem verlangen kann. Und deswegen kann mein Herz nicht ruhen, deswegen muss ich hier weiter herumziehen. Ich bin wieder in der großen Höhle und nun sehe ich es im Spalt genau: es kommt ein Neuer. Ich trete zur Seite, ein wenig, und breite meine Arme aus. Er kommt gefallen und ich fange ihn auf. Wortlos laufen die Tränen über seine Wangen, wortlos wie bei allen. Ich stelle ihn ersteinmal auf seine Füße zurück und dann beginne ich seine Tränen zu trocknen. Wir setzen uns hin und er sieht mich an. Seine Augen sind die Dunkelheit noch nicht gewöhnt. Also versucht er noch angestrengt, mich zu sehen.

Es ist nicht wichtig, den Neuen zu sagen, wo sie sind. Jeder weiss selber, wie er hierher geraten ist und wo sie hingeraten sind, das bekommen die meisten sehr schnell heraus. Ich greife nach den Fackeln, die ich vorbereitet habe, der Neue hat keine eigene. Und ich drücke ihm einfach eine in die Hand. Dann entzünde ich mit meinem kleinen Licht, dass ich immer bei mir trage, seine Fackel. Ich nicke ihm freundlich zu und sage: „Komm, ich führe dich durch die Höhlen der Verzweiflung." Dann gehe ich voraus. Vielleicht folgt er mir, vielleicht wird er meine Hilfe annehmen. Ich weiss es nicht. Manche gehen woanders hin, manche werfen sogar die Fackel weg. Aber manche folgen mir. Und diesen Menschen kann ich manchmal die falschen Wege zeigen.

Niemand weiss hier unten, wo die richtigen Wege sind. Wir kennen alle nur falsche Wege. Und je mehr falsche Wege man den Neuen zeigen kann, desto sicherer finden sie einen richtigen, ihren richtigen. Und wenn sie lange genug Geduld zeigen und sicher folgen, dann werden sie auch sicher ihren Weg finden. Und sie werden wissen, dass sie hier, an der dunkelsten Stelle dieser Welt, einen Verbündeten haben. Und das wird ihnen helfen, nicht wieder hierher zu kommen. Denn sie brauchen sich nicht mehr fürchten. Und viele, die hier unten waren, haben sich oben auch wieder gefunden und leben nun dort im Glück.

Ich schreite wieder ins Dunkel voran und hoffe, dass der Neue mir folgt. Und ich denke kurz daran, dass er vielleicht der besondere Mensch sein könnte, der es vermag, hier unten zu bleiben, der stärker ist als ich und dem ich meine Rolle hier ruhig anvertrauen kann. Doch dann wische ich diesen Gedanken fort, es gilt, einen Menschen zu befreien, zu befreien von diesem Dasein. Und so setze ich Schritt vor Schritt und ich freue mich, dass Schritte wie ein Echo mir folgen.