Die Befreiung

Dunkelheit. Mit mehr als diesem Wort konnte man es nicht beschreiben. Vorsichtigt tastete er sich von Baum zu Baum vorwärts. Was in aller welt tat er hier überhaupt? Genau wusste er es nicht. Was er aber wusste, war, das, was immer er gerade tat, er es nicht in dem Tempo tat, in dem er es gerne getan hätte. Und das lag einzig und alleine daran, dass dieser verflixte Wald so dunkel war. Und uneben noch dazu, das fiel ihm jedesmal wieder auf, wenn er über eine Wurzel stolperte und in der Folge gegen einen Baum lief. Sein gesicht musste schon von Schürfwunden geradezu übersät sein.

Aber warum jammerte er? er hatte es sich doch nicht anders ausgesucht. Niemand zwang ihn dazu, hier nachts im Wald herumzustolpern, das war doch seine eigene Entscheidung gewesen. Gut, dass er die Wege verlassen musste, weil er zu weit nach Süden gekommen war und sie ihn sonst gefunden hätten, das wäre zu vermeiden gewesen. Und dass seine Taschenlampe den Geist aufgegeben hatte, das war Pech gewesen. Trotzdem konnte er niemand als sich selbst die Schuld hieran geben. Außer ihr vielleicht.

Was hatte sie sich auch erwischen lassen? So was dummes. Aber gut, nun war es geschehen und was sollte er machen? er war nun mal immer derjenige gewesen, der sie überall rausgeholt hatte, er hatte das Gefühl, dass sie überhaupt gar nicht für sich selbst sorgen konnte, auch wenn sie das immer wieder behauptete. Und nun war er eben wieder mal unterwegs, um sie aus einem der üblichen Schlamassel herauszuhauen. Aber wie er das machen sollte, wo er doch schon daran scheitern würde, diesen Wald bis zum Anbruch des Morgens zu durchqueren, das wusste er auch nicht so genau.

Ihm würde eben was einfallen müssen, das passierte doch immer. Also: wieso machte er sich überhaupt Sorgen? Im Grunde konnte bei seinem üblichen Glück doch gar nichts passieren. Und so beruhigte er sich selbst und tastete sich weiter.

-

Irgendetwas stimmte nicht. er wusste nicht, was. Aber irgendetwas war einfach nicht so, wie es sein sollte. Er stand nun zum 700sten mal hier auf Wache. Und immer war alles in Ordnung gewesen. Bis heute. Heute war es anders. Vielleicht würde etwas passieren? Aber wer könnte ernsthaft so dumm sein, mitten in der Nacht durch den Wald zu kriechen, um dann hier einzubrechen? Er wusste, dass es weit im Norden eine Menge seltsamer Gestalten gab, aber dass jemand allen ernstes so verrückt wäre, nein, das konnte nicht sein.

Und wenn doch? Vielleich twürde er heute seine Energiewaffe zum ersten Mal gegen eine Person richten müssen. Bis jetzt hatte er nur auf die Animationen in den Trainigszentren geschossen. Aber was kann da schon anders dran sein, fragte er sich. Interaktives Hologramm oder Nordmensch, beide waren auf einem ähnlichen Intelligenzniveau. Und Hologramme waren nicht gerade Herausforderungen an seine überlegene Kondition.

Er war nicht umsonst ein Gardewächter. Und hier, an diesem Ort, standen nur die besten. Denn es war das wichtigste aller Lager. Und er war am längsten hier. Er hatte schon ganz zu recht ein Gefühl der deutlichen Überlegenheit gegenüber allem, was geschehen konnte. Sollten sie doch kommen und in rauen Horden über ihn herfallen, die Nordler. Er würde es ihnen schon geben.

-

Langsam hatte er die Schnauze voll. warum musste sie auch immer so eine Scheisse bauen? warum konnte sie nicht EINMAL darauf hören, wenn die Stammältesten etwas untersagten? Aber sie war schon immer eine Rebellin gewesen, keiner konnte sie zurückhalten. Und dabei war sie so unbedarft, sie wusste so wenig, was sie eigentlich tat oder im Zweifelsfalle tun sollte. Dafür war immer er zuständig gewesen.

Autsch, schon wieder eine von diesen schlingwurzeln, er hätte laut schreien mögen, wenn er sich nicht darüber im Klaren gewesen wäre, dass er sich schon in ziemlicher Nähe zu seinem Ziel befinden musste. Den Gerüchten zufolge war es das am schwersten bewachte Lager überhaupt. Aber ok, was machte es schon aus, ob er gegen einige Dutzend oder gegen einige Hundert keine Chance hatte?

Jedenfalls war er fest entschlossen, alles zu versuchen, was er konnte und ja, das war gar nicht so wenig. Immerhin war er der beste. er konnte sich hier ohne Licht und mitten im dichten wald orientieren und er hatte ihnen nicht bloß einmal ein schnippchen geschlagen. Schließlich war er der einzige, der jemals aus der Hauptstadt zurückgekehrt war. Und dagegen war das hier ein Spaziergang.

Also, dachte er: wenn ich gleich da bin, dann werde ich mir eine schwache Stelle im Ring der wachen ausgucken und eine oder zwei überwältigen. Dann das Loch in die Mauer, kein Problem, dafür hatte ja der Mischer gesorgt. Und zack, wäre er drin, ein paar Minuten ohne dass er entdeckt würde, sollten ausreichen, um Feuer im Lager zu legen und dann könnten sie in dem Chaos, das folgen würde, fliehen.

-

Er nippte am Trunk für die zweite Hälfte der Nacht, den ihm ein Kollege rausgebracht hatte. Nichts war geschehen bis jetzt. Vielleicht hatte er sich tatsächlich getäuscht. Er wusste nicht einmal, ob das vorhin wirklich ein komisches Gefühl gewesen war, oder ob er tatsächlich nur vergessen hatte, die Dosis für heute zu erhöhen. Aber das war ja nun egal, nach dem zweiten Trunk würde sich das erledigt haben.

Während die wohlige Wärme sich in seinem Körper ausbreitete, dachte er an den kommenden Morgen. Es würde ein besonderer Morgen werden: es würde die erste Hinrichtung geben hier. Das kleine Aas hatte sich dreist in die Zentrale NordOst geschlichen und wollte dort ein Flusskontrollsystem manipulieren. Nicht auszudenken, wenn sie es geschafft hätte. Hunderte hätten ohne wasser auskommen müssen, für Stunden.

Und das nur, weil sie meinte, ihr "stamm" bräuchte das Wasser... tststs, diese Nordmenschen hatten wirklich keinerlei Vorstellungen von recht oder von Moral. Nunja, der Rat jedenfalls hatte beschlossen, dass es an der Zeit wäre, ein Exempel zu statuieren und deswegen würde sie nun morgen dehydralisiert werden. In aller Öffentlichkeit, die Hologrammsonden würden die BIlder auch in den Norden tragen, damit denen endlich klar würde, was sie dürfen und was nicht.

Und er selbst, ihm kam die ehrenvolle Aufgabe zu, die Maschine zu bedienen. Und er konnte sich keinen Würdigeren vorstellen. Im Ernst, er würde es toll machen. Dramatisch. Man würde zufrieden sein, vielleicht würde man ihn sogar befördern. Und auf keinen Fall würde er zulassen, dass das heute noch durch einen Überfall vereitelt würde. Deswegen hatte er sich auch hier einteilen lassen. Und er würde es schaffen. Auf jeden Fall.

-

Dort vorne war es. Der wald wurde lichter und das grüne Licht schien schon bis zu ihm her. Jetzt ganz langsam und vorsichtig. Aber das war er sowieso schon die ganze Zeit. er konnte schon die Umrisse erkennen, während er sich von Baum zu Baum schlich und die Deckung nach Möglichkeit ausnutzte. Solange er im Wald blieb, war er sowieso recht sicher. Denn ihre Augen waren nicht die besten, das wusste man.

Sie mochten in der technik weit überlegen sein, was aber die natürlichen Vorteile betraf, die lagen auf seiner Seite. Und es war ein riesiger Vorteil, den er da brauchte, schoss es ihm durch den Kopf, als er die Größe der Mauer erkannte. Wow, er hatte zwar gehört, dass es gewaltig sein sollte, aber DAS? Nun, er würde wohl noch einiges von seinem Glück brauchen heute nacht...

Nun hatte er fast die äußerste Baumreihe erreicht. Der Boden senkte sich leicht ab, das ganze Lager war in einer Senke gebaut, und eine ziemliche offene Strecke lag noch zwischen ihm und dem wachring. Dennoch konnte er bereits die einzelnen Wachen erkennen. Und zum ersten Mal keimte Hoffnung in ihm auf, dass er es tatsächlich schaffen könnte. Denn sie patroullierten nicht einmal. er bräuchte also bloss zu einer hinschleichen, sie niederzuschlagen und schon hätte er gewonnen.

Und nicht nur das, er hätte sogar noch eine Waffe, denn die trugen offenbar alle. Nun musste er die entscheidende Strecke bis dorthin nur noch so unauffällig wie möglich zurücklegen. Ganz vorsichtig tastete er sich um den Baum herum und dann den ersten Schritt vor. Als er den anderen Fuss nachziehen wollte, verfing der sich in einer Schlingwurzel und da keine Bäume mehr in seinem Weg standen, brachte ihn das Stolpern diesesmal zu Fall. Er kugelte die Schräge hinab und blieb schliesslich in etwas höheren gräsern liegen.

Sofort schaute er zu den Wachen rüber. Nur eine konnte ihn gehört oder gesehen haben. Und die stand noch in einiger entfernung. Jetzt wäre ein guter Moment für dich, mein Glück, dachte er. Die Wache stand mit der Waffe im Anschlag auf ihrem Posten und bewegte sich kein Stück. Aber sie sah in seine Richtung herrüber. Das hatte sie vielleicht vorher aber auch schon getan. Puh, es schien tatsächlich gutgegangen zu sein. Aber er hätte sich schlagen können für diese Dummheit. Sowas durfte nicht nochmal passieren.

-

Auch nach dem zweiten Trunk wurde er das Gefühl nicht los, dass irgendwas nicht stimmte. Also verdoppelte er seine Aufmerksamkeit. er wusste, dass man Gerüchte verbreitete, nach denen Wächter im besonderen keine guten Augen hätten. Das mochte ja für den rest seiner spezies gelten, er jedoch war mit zwei Spitzenmodellen ausgerüstet worden. Mit ihnen erkannte er die Bewegung einer Halmspitze auf die entfernung von hier bis zum wald.

Und so musterte er den waldrand, denn wenn etwas geschehen würde, dann von dort aus. Deshalb stand er hier. Und da, da war es tatsächlich! Sein Körper schaltete sofort in den Alarmmodus um. Da war mindestens einer von ihnen, aber kein besonders geschickter. Das er das Lager ausspähte, konnte man auch mit der schlechten Sehkraft seiner Artgenossen erkennen.

Und nun, da kam er heraus aus dem wald und, ja, und fiel hin. Idiot, dachte er. Der Nordmensch kugelte den halben Abhang hinunter und blieb in einem Büschel Gras liegen und rührte sich nicht mehr. was sollte das? Vielleicht war es ja ein Ablenkungsmanöver? Vielleicht wollten sie nur sehen, wie die Bewachung reagierte und wie sie bewaffnet war. Auf keinen Fall würde ER ihnen einen taktischen Vorteil verschaffen, weil er keine Geduld beweisen konnte.

Also beobachtete er erstmal. Den Waldrand, den einzelnen dort vorne, ob er noch andere mit sich hatte oder ob er alleine war und was er ausheckte. Nach einer Zeit, in der nichts geschehen war, war eigentlich klar, dass nichts mehr passierte. der einzelne Bastard, der dot im gras lag, war einfach nur hingefallen und hoffte nun, dass er unerkannt geblieben wäre. wenn noch andere da wären, oder wenn das zu einem Plan gehörte, dann wäre schon etwas geschehen.

Keinen Moment hatte er den einzelnen aus dem Visier gelassen, Kleinigkeit, auf die entfernung nicht mehr als eine Schießübung. Und wenn er das wollte? wenn das vielleicht eine Falle war? Achwas, was für eine Falle könnten die schon bauen, die IHM gefährlich werden könnte. Also zielte er nocheinmal kurz und drückte ab. Ein kurzes Zischen durchdrang die friedliche Nacht und ein kleiner, blauer Strahl traf exakt in das Grasbüschel, das mitsamt dem Eindringling in einer kurzen Stichflamme aufging.

Diese Strahlwaffen waren schon was feines, dachte er bei sich. werde morgen dann mal einen Bericht schreiben. Vor der Hinrichtung. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. er war zufrieden, das Gefühl war endlich weg.