Meer

Ein endloses, schwarzes Meer, ruhig und dunkel und geheimnisvoll.
Meine Füße berühren das einzige Land, großgenug, dass ich den Halt nicht verliere. Kein Stern steht über mir, nur der Halbmond, abnehmend. Sein totenfahles Licht verliert sich, ohne das Meer zu berühren, im Unendlichen der Luft über mir. Sie ist klar und frisch, genauso schwarz wie das Meer. Einen Horizont gibt es nicht; das Meer umschliesst mich von allen Seiten bis zum Mond.
Ich halte eine Kerze, ihr Schein ist golden und sie erhellt nur mich. Wenn ich mich hinunterbeuge und sie an das Wasser bringe, dann fallen Tropfen heissen Waches auf die Oberfläche, die sich in Sekunden im ganzen Meer verteilen und das Meer bleibt so schwarz wie immer.
Ich stehe hier bereits lange, so lange, dass ich mich fast nicht erinnere, wann ich vom hellen Land losgebrochen bin; so lange, dass ich nur noch ein blasses Bild im Kopf habe vom hellen Land, auf dem man sich bewegen kann, dessen Schönheit man sehen kann, das von einer Sonne erleuchtet wird, auf dem Leben existiert, Blumen, Bäume, Vögel, andere Menschen. Ich weiß, dass ich hier nicht mehr lange stehen kann. Meine Kerze, die mir mitgegeben war, als ich vom Lande auszog, weil ich es nicht ertrug, mich auf ein winziges Stück meiner selbst zu beschränken, ist nun fast gänzlich abgebrannt. Sie brannte, solange ich auf meinem Stückchen Erde durch dieses Meer treibe, sie leuchtete umsonst, ihr Schein wurde vom Meer verschluckt, ihr Wachs wurde vom Meer verschluckt, aber es wurde nicht heller.
Ich weiss, wenn diese Kerze ausbrennt, wenn diese Flamme erlischt, dann gibt es keine Hoffnung mehr, dann treibe ich auf ewig im schwarzen Meer, bei abnehmendem Totenmond, bis vielleicht das Meer ein Erbarmen hat und mir mein Land nimmt und mich verschluckt, wie die Kerze vor mir, wie ihr Wachs.
Und ich betrachte das Meer zu meinen Füßen und ich suche verzweifelt, ob es nicht irgendwann heller wird und ich finde es schwarz, schwarz wie am Beginn, schwarz wie seit Ewigkeiten. Aber dann blicke ich auf und ich sehe etwas, was ich noch nie sah, eine andere Insel. Und sie treibt auf mich zu und es steht jemand auf ihr und sie hält auch eine Kerze in der Hand. Und wortlos treiben wir aufeinander zu und ihre Hand weist in die Richtung, aus der ich komme und zum ersten Mal blicke ich mich um und hinter mir ist eine Hand. Eine helle Hand, die mich leitet, die mich schiebt und ich erkenne: sie hat mich immer geleitet und geschoben. Und dieselbe Hand sehe ich hinter der zweiten Insel, hinter Ihr.
Als die Inseln sich berühren, halten wir beide unsere Kerzen aneinander, die Flammen vereinen sich und sie erleuchten den gesamten Himmel und das Meer. Ein Land erhebt sich unter unseren Füßen, größer, bunter, schöner als alles, was ich mir je vorstellen konnte.Und die Kerzen stehen gemeinsam dort, wo die Einsamkeit aufgelöst wurde, dort, wo die Sehnsucht erfüllt wurde, dort, wo ein Glück begann, das nie mehr enden wird und sie erhellen das ganze Land und das Meer verschwindet am Horizont und der Mond verschwindet am Himmel.
Wir fassen unsere Hände und gehen erste Schritte auf unserem neuen Land und wir gehen. Seit langem gehen wir wieder und die Hand führt uns beide.